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„Die Tafeln waren weiterhin für die Menschen da“ - von Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten


Lebensmittelausgabe bei der Tafel in Bebra
Ehrenamtliche bei der Lebensmittelausgabe der Tafel in Bebra (Bild: Tafel Bebra)

Die Grundidee der Tafeln ist simpel - gerettete Lebensmittel werden an bedürftige Menschen verteilt. Doch die Krisen bringen die Tafeln an ihre Grenzen.



Voller Scham macht sich Gerd zum ersten Mal auf den Weg zur Tafel. Er nimmt die längere Strecke nach Bebra in Kauf, denn er befürchtet, er könnte in Rotenburg erkannt werden. Was würden die Leute jetzt über ihn denken; früher war er doch immer so gut gestellt. Doch seit diesem Jahr ist alles anders. Inflation, Stellenabbau und ehe er sich versah, blieb ihm fast nichts mehr übrig. In der Reihe stehend greift Gerd angespannt nach seiner Tafelkarte, die er fast zerknüllt; das Zwei-Euro-Stück fällt ihm beinahe aus seinen schweißnassen Fingern. Als er an der Ausgabe der Nächste ist, löst sich seine Verkrampfung. Die Ehrenamtliche, die ihm gegenübersteht, lächelt ihn warm an. – Gerds Geschichte steht sinnbildlich für das Schicksal von 1,65 Millionen Menschen in Deutschland, die auf die Tafeln angewiesen sind. Dank über 60.000 Ehrenamtlichen werden bedürftige Menschen unter anderem mit Lebensmitteln, Kleidungsstücken und Sozialberatungen an mehr als 900 Standorten unterstützt. Einer dieser Standorte, den wir besuchen konnten, liegt in Bebra: Hier wird etwa 240 Haushalten aus dem Altkreis Rotenburg von 60 Ehrenamtlichen geholfen.


Das Prinzip Tafel

Jeden Tag werden in Deutschland eigentlich noch genießbare Lebensmittel weggeworfen, während andere Menschen nicht genügend Essen haben. Die Tafeln versuchen mit ihrer Arbeit, einen Ausgleich zwischen Verschwendung und Knappheit zu schaffen: Supermärkte, Bäckereien und Privatpersonen spenden Lebensmittel, die dann von den Ehrenamtlichen der Tafel abgeholt und vor Ort sortiert werden. Im wöchentlichen Wechsel mit dem Standort in Rotenburg findet am Dienstag in Bebra die Ausgabe der Lebensmittel statt. „Das Prinzip Tafel ist grundsätzlich einfach, aber bedarf immens viel Organisation“, merkt Gundula Pohl, Abteilungsleiterin der Allgemeinen Diakonie im regionalen Diakonischen Werk, an. Die Tafeln müssten beispielsweise hohe Bestimmungen erfüllen, die die Lagerung der Lebensmittel betreffen – so seien Hygienebestimmungen und eine ordnungsgemäße Lagerung einzuhalten. Neben den offensichtlichen Aufgaben wird also auch im Hintergrund viel koordiniert, denn „die Tafeln tragen auch eine hohe Verantwortung gegenüber den Kunden“, erklärt Dagmar George, leitende Koordinatorin der Tafeln in Bebra und Rotenburg.

Daher musste eigens für den Transport der Lebensmittel ein Kühlwagen angeschafft werden – Kosten, die neben der Miete und dem Lohn für festangestellte Mitarbeiter:innen anfallen. Aus diesem Grund sind die Tafeln vor allem auf Spenden angewiesen.


Wie finanziert sich die Tafelarbeit?


Die Tafeln kann man am besten durch Lebensmittel- und Geldspenden unterstützen. Am unverzichtbarsten sei jedoch die ehrenamtliche Arbeit, wie Alexander Ulrich, Diakoniepfarrer und Geschäftsführer im regionalen Diakonischen Werk, betont. Eine der gut 60 Ehrenamtlichen ist Ulrike Herbst – sie engagiert sich seit ihrem Eintritt in den Ruhestand vor knapp zwei Jahren bei der Tafel. Die Mehrheit der Helfenden besteht aus Senior:innen. Doch während der Corona-Pandemie unterstützen vor allem viele Menschen in Kurzzeitarbeit oder auch Studierende die Tafel. Auch junge Menschen können sich weiterhin einbringen – so sind beispielsweise Praktika und Freiwilligendienste möglich. Die derzeitige FSJ’lerin bei der Tafel in Bebra ist Victoria Uhrig, die begeistert von ihrer Arbeit berichtete, aber auch auf die Probleme der Tafelarbeit aufmerksam machte.


„Man sieht den Menschen Armut nicht an.“

In Deutschland leben 13 Millionen Menschen in Armut, weshalb einige von ihnen auf die Tafeln angewiesen sind. Während manche der Betroffenen offen mit ihrer Situation umgehen, ist es für andere wiederum mit Scham verbunden, die Hilfe der Tafel anzunehmen. Um an diese Hilfe zu gelangen, benötigt man eine Tafelkarte, für die man beim Sozialamt bestimmte Nachweise erbringen muss. Allein der Weg zum Amt wird für einige Menschen als belastend empfunden. „Armut ist in unserer Gesellschaft immer mit Versagen und Schuld belastet und wird negativ bewertet“, bringt Gundula Pohl als Grund für das Schamgefühl einiger Tafel-Kund:innen an. Einige von ihnen würden zum Beispiel weitere Strecken in Kauf nehmen, um bei ihrem Tafelbesuch nicht von Bekannten gesehen zu werden. Die Tafel in Bebra biete jedoch ein gewisses Maß an Anonymität, da sie zum einen gut erreichbar sei, aber dennoch nicht mitten in der Stadt liege.

Während das Angebot der Tafel für Kinder kostenlos ist, zahlen Erwachsene pro Person und Ausgabe jeweils zwei Euro. Diese zwei Euro helfen nicht nur dabei, laufende Ausgaben zu decken, sondern geben den Betroffenen auch ein Gefühl der Normalität und Wertschätzung: Statt die Produkte kostenlos zu bekommen, leisten sie selbstständig einen Beitrag zu ihrem Wohlergehen und erhalten das Gefühl, „normal“ einkaufen zu gehen.


Von Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten

Das Gefühl normalen Einkaufens muss jedoch seit Beginn der Pandemie ausbleiben. Verschiedenste Hygienevorschriften verlangten den Ehrenamtlichen einiges an zusätzlichem Organisationsaufwand ab, um die Tafelarbeit weiterhin aufrecht erhalten zu können: Seither fand jede Ausgabe draußen statt – ungeachtet der Witterungsbedingungen. Außerdem werden die Produkte nicht mehr zur freien Auswahl angeboten, sondern in vorgepackten Tüten ausgegeben. Um den erhöhten Andrang in dieser Ausnahmesituation stemmen zu können, wurde eine Notversorgung eingerichtet – kein:e Bedürftige:r wurde abgewiesen. „Die Tafeln waren weiterhin für die Menschen da“, sagt Dagmar George. Während die Pandemie bei vielen Menschen für Verunsicherung sorgte, standen die Tafeln weiterhin für Stabilität und eine konstante Versorgung.


Was befindet sich in den vorgepackten Tüten?


Nicht nur die Pandemie hat zu einem höheren Zulauf an Tafel-Kundinnen und -Kunden geführt, sondern auch der Ukraine-Krieg und die steigende Inflation. „Die Zahlen sind explodiert“, sagt Dagmar George. Der Andrang habe sich nahezu verdreifacht, was die Tafel letzten Endes dazu gezwungen hat, einen Aufnahme-Stopp von Neukund:innen und eine entsprechende Warteliste einzuführen. Der Tafel fehle es vor allem an Kapazitäten, um mehr Lebensmittel zu lagern, aber auch an Ehrenamtlichen, die den erhöhten Arbeitsaufwand leisten können.

Trotz steigender Preise sei die Spendenbereitschaft weiterhin hoch. Die Tafel in Bebra erhält so viele Kleiderspenden, dass sie diese mittlerweile zum Teil abweisen müssen. Neben der obligatorischen Lebensmittelausgabe bietet die Bebraer Tafel ein sogenanntes „Kleiderstübchen“ an, für das Privatpersonen oder auch Bekleidungsgeschäfte und Versandhändler Kleidungsstücke spenden.


Was ist das "Kleiderstübchen"?


„Es kann jedem passieren, auf die Tafel angewiesen zu sein.“

Kurzarbeit, Inflation oder Erkrankungen – die Gründe, weshalb Menschen auf die Tafel angewiesen sind, sind vielfältig. Manche dieser Lebenssituationen treten jedoch unerwarteter auf als andere und können alle Menschen ganz unabhängig von ihrer sozialen und finanziellen Lage treffen.


„Eigentlich dürfte es die Tafeln gar nicht geben.“

Alexander Ulrich, Diakoniepfarrer und Geschäftsführer im regionalen diakonischen Werk


Die Worte von Alexander Ulrich wiegen zunächst schwer – doch er erhält dafür die volle Zustimmung all seiner Kolleginnen und Kollegen. Dass es die Tafeln überhaupt geben müsse, sei ein strukturelles Problem des deutschen Sozialstaates: Die Hartz-IV-Sätze seien zu eng bemessen und lägen am Existenzminimum und die finanzielle Unterstützung von Geflüchteten sei noch niedriger als die Hartz-IV-Sätze. Aus diesem Grund seien höhere Hartz-IV-Sätze und eine lebenswerte Altersrente wichtig, um nicht in Armut leben und auf die Tafeln angewiesen sein zu müssen.


Die Tafeln versorgen zwar einerseits bedürftige Menschen mit Lebensmitteln, andererseits sind das letztlich Lebensmittel, die ansonsten entsorgt werden würden. Die Tafel-Mitarbeiter:innen kritisieren daher das Maß an Lebensmittelverschwendung in Deutschland. Für uns alle sei es selbstverständlich, noch bis zum Ladenschluss frische Backwaren zu erhalten – die übrige Ware wird jedoch meist nach Ladenschluss entsorgt. Jährlich retten die Tafeln in Deutschland mit ihrer Arbeit circa 200.000 Tonnen Lebensmittel und helfen damit den Menschen, die diese Hilfe dringend benötigen.


Die Zahl derer, die auf die Tafeln angewiesen sind, steigt jedoch von Tag zu Tag. Daher blicken die Tafel-Mitarbeiter:innen mit Sorge auf den kommenden Herbst und Winter, der noch höhere Lebenserhaltungskosten mit sich bringen wird. „Aber auch das werden wir schaffen”, betont Dagmar George zuversichtlich.

 

Colin, Hannah und Sophie


Die FSJ-Stelle bei der Tafel in Bebra kann zum 1. September neu besetzt werden. Interessenten können sich für weitere Informationen direkt an die Tafel wenden.

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