Es ist zwar schon etwas länger her, aber dieser eine kalte Februartag blieb mir noch bis heute gut im Gedächtnis: die eigentlich sonst heitere Stimmung im Bus verstummte plötzlich, als wir auf den Parkplatz der Gedenkstätte Buchenwald ankamen und nun zum ersten Mal wirklich diesen erschreckenden Ort betraten, von dem wir vorher nur in Geschichtsbüchern gelesen hatten. Hier, genau an diesem Ort, wurden vor nicht allzu vielen Jahrzehnten tausende Menschen gefangen gehalten, gefoltert und oft sogar anschließend getötet. Im Konzentrationslager Buchenwald sind in der Zeit von 1937-1945 mehr als 250.000 Menschen inhaftiert worden - darunter Juden, Sinti und Roma, politische Gegner und Homosexuelle - 56.000 dieser überlebten jene Grausamkeiten nicht.
Plötzlich wurde uns an diesem Vormittag bewusst, dass diese Brutalitäten wirklich stattgefunden hatten: Bilder, Gedenkstätten oder Augenzeugenberichte sind auch heute noch Erinnerungen an das, was sich vor mehr als 75 Jahren ereignet hatte.
Gerade für uns als junge Generation scheint all das unglaublich weit weg zu sein: heute vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg in Europa am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. 75 Jahre voller neuer Generationen, die für die Zeit des Nationalsozialismus sensibilisiert wurden, sind seitdem vergangen. Einige von uns haben oder hatten vielleicht noch das Glück, mit Zeitzeugen, wie den eigenen (Ur-)Großeltern, über diese Zeit reden zu können – für all die anderen sind es lediglich Bilder, Filme, Briefe, Orte oder andere historische Quellen, die die Erinnerung an diese Zeit aufrechterhalten.
Generation für Generation entfernen wir uns zeitlich immer weiter von diesem finsteren Kapitel unserer Geschichte und können meist gar nicht richtig realisieren, welche Unfassbarkeit sich vor gar nicht allzu langer Zeit abgespielt hat – doch wir dürfen all das nicht vergessen, verdrängen, herunterspielen oder gar abstreiten, nur weil wir es selbst nicht erlebt haben.
"Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren."
Richard von Weizsäcker (1920-2015), deutscher Bundespräsident von 1984-1994, am 8. Mai 1985 zur Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa
Auch heute bin ich immer noch fassungslos darüber und kann es kaum in Worten beschreiben, wie sehr mich der Besuch Buchenwalds dazu gebracht hat, all das zu realisieren – auch wenn es noch so unbegreiflich sein mag. Niemand von uns ist für die Grausamkeiten verantwortlich, die sich zur Zeit des Nationalsozialismus ereignet haben, und niemand kann sie ungeschehen machen. Jedoch ist es unsere Pflicht, aus unserer Geschichte zu lernen und zu verhindern, dass es jemals wieder zu solch einer Unmenschlichkeit kommt.
"Wir dachten, der alte Ungeist würde mit der Zeit vergehen. Aber nein: Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand.“
Frank-Walter Steinmeier, derzeitiger Bundespräsident, am 29. Januar 2020 zur Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus
Viele von uns mögen vielleicht der Auffassung sein, dass diese Taten und Gedanken von damals ein für alle Mal in der Vergangenheit bleiben. Doch wer sich aufmerksam umsieht, muss feststellen: Vorurteile, Ausgrenzung und Fremdenhass sind mittlerweile leider fester Bestandteil unseres Alltags geworden. Was vielleicht mit Vorurteilen anfängt, kann über Fremdenhass bis hin zu Extremismus führen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir alle uns für einen toleranten, würdevollen und solidarischen Umgang miteinander einsetzen und Vorurteile, Hass sowie Gewalt nicht akzeptieren. Wir dürfen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Hassgefühlen keinen Platz in unserer Gesellschaft geben – und dafür müssen wir alle handeln. Gemeinsam, nicht gegeneinander.
Redaktion
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