177 Seiten umfasst der neue Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung – was könnte sich dadurch in Zukunft für junge Menschen verändern?
Der Koalitionsvertrag der sogenannten Ampel-Regierung aus SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN steht; Angela Merkel, die 16 Jahre das Amt der Kanzlerin innehatte, wurde mit einem Großen Zapfenstreich gebührend verabschiedet und Olaf Scholz (SPD) wurde am Mittwoch zum neuen Kanzler von Deutschland gewählt. Mit dem Wechsel des Kanzleramts von Angela Merkel (CDU) zu Olaf Scholz endet vermutlich nicht nur für ganz Deutschland, sondern vor allem auch für uns alles junge Generation eine Ära: Die meisten von uns sind unter Merkels Kanzlerschaft aufgewachsen und können sich, wenn überhaupt, nur noch dunkel an die Regierungszeit Gerhard Schröders (SPD) erinnern. Die Ampel-Regierung steht nun vor großen Herausforderungen: Die Bewältigung der Corona-Pandemie, das Aufhalten des Klimawandels und die Überwindung der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich sind einige der Punkte, die die Regierung weit oben auf ihrer Agenda stehen hat. Die Politikerinnen und Politiker der neuen Regierung nehmen diese Aufgaben an und bezeichnen ihre Koalition dabei gern als „Fortschrittsbündnis“ – aber was genau bieten die Regierungspläne der Ampel gerade für die junge Generation?
177 Seiten voller Ziele
„Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ – das ist der Titel des Koalitionsvertrages, der 177 Seiten umfasst. 59 Tage nach der Wahl stellten die drei Parteien ihren Koalitionsvertrag vor, in dem allein das Wort „digital“ 226 Mal, das Wort „Klima“ 198 Mal und „Kinder“ ganze 83 Mal vorkommt. Dass die neue Regierung künftig deutlicher junge Menschen im Blick haben könnte, zeigte sich auch an Scholz‘ ungewohnt emotionaler Ansprache in der ProSieben-Sendung „Joko und Klaas 15 Minuten live“, in der er nicht nur zum Impfen aufrief, sondern sich auch gezielt an junge Menschen wandte. Für Kinder, Jugendliche, Auszubildende, Studierende und junge Erwachsene sieht daher der Koalitionsvertrag einige Änderungen vor – welche Ziele der Regierung davon letztlich umgesetzt werden können, wird die kommende Legislaturperiode zeigen.
Früher wählen und Autofahren
Die Ampelregierung möchte das begleitete Fahren ab 16 Jahren einführen, „um Jugendliche schon frühzeitig für die Gefahren im Straßenverkehr zu schulen“. Außerdem soll das Monopol bei der Fahrerlaubnisprüfung aufgehoben werden – das könnte die langen Wartezeiten für Prüftermine verringern.
Das Wahlalter für die Wahl zum Europäischen Parlament und zum Deutschen Bundestag soll künftig von bisher 18 auf 16 Jahre gesenkt werden. Um das Wahlalter für den Bundestag senken zu können, muss jedoch das Grundgesetz geändert werden.
Wie wird das Grundgesetz geändert?
Um ein Gesetz im Grundgesetz ändern zu können, bedarf es der sogenannten Zwei-Drittel-Mehrheit. Das bedeutet, dass zwei Drittel der Mitglieder im Bundestag und zwei Drittel der Stimmen im Bundesrat der Änderung zustimmen müssen. Einige Prinzipien unserer Verfassung können jedoch nicht verändert werden. Eine Senkung des Wahlalters ist zwar grundsätzlich möglich – dafür müssten aber auch einige Stimmen der Opposition von CDU/CSU, AfD und LINKE der Änderung zustimmen. Die CDU als auch die AfD äußerten sich gegenüber einer Wahlaltersenkung skeptisch; die LINKE könnte zustimmen.
Klimaschutz
Die Regierung plant, „idealerweise“ bis 2030 aus der Kohle auszusteigen – bisher war dazu das Jahr 2038 angedacht. Außerdem ist die Klimaneutralität Deutschlands bis 2045 vorgesehen und bis 2030 sollen mindestens 80% der Stromenergie aus erneuerbaren Energien stammen. Im Jahr 2030 sollen außerdem mindestens 15 Millionen E-Autos auf Deutschlands Straßen unterwegs sein, wofür unter anderem der Ausbau der Ladesäuleninfrastruktur und die Erforschung nachhaltiger Batteriesysteme vorangetrieben werden soll. Die GRÜNEN besetzen mit Robert Habeck das hinsichtlich des Klimaschutzes wichtige Wirtschafts- und Klimaministerium und außerdem soll es einen sogenannten „Klimacheck“ geben: Jedes Ministerium soll seine Gesetzesentwürfe auf die Vereinbarkeit mit den Klimaschutzzielen prüfen müssen.
Das Wörtchen „idealerweise“ und die Kritik an den Klimaschutzzielen
Nach einer Studie der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) würden mit den derzeitigen Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag die Klimaziele des Pariser Klimaschutzabkommens verfehlt. Deutschland müsse dazu bis 2030 klimaneutral werden, um das 1,5-Grad-Ziel einhalten zu können. Kritik gibt es vor allem an der unkonkreten Formulierung des Ziels zum Kohleausstieg im Wortlaut „idealerweise bis 2030“. Auch Olaf Brandt, Vorsitzender des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), zweifelt an der Einhaltung des 1,5-Grad-Zieles.
Schule, Ausbildung, Studium und Arbeit
Mit dem Digitalpakt 2.0, der in Zusammenarbeit mit den Bundesländern auf den Weg gebracht werden soll, ist geplant, die Digitalisierung an Schulen weiter voranzubringen und den Abruf der zur Verfügung stehenden Gelder zu verbessern. Die Ampelregierung möchte den Mindestlohn auf 12 Euro anheben – aktuell liegt dieser bei 9,60 Euro pro Stunde. Die Minijob-Grenze erhöht sich dementsprechend von 450 auf 520 Euro. Außerdem soll es eine Ausbildungsgarantie geben, die allen Jugendlichen eine vollqualifizierende Ausbildungsmöglichkeit ermöglichen soll. Mit einem Bund-Länderprogramm möchte die Regierung die Voraussetzungen für die schnelle Schaffung von günstigem Wohnraum für junge Menschen, Studierende und Auszubildende schaffen. Weiterhin steht eine Reformierung des BAföGs an – es soll elternunabhängiger werden, die Freibeträge sollen erhöht und die Altersgrenzen angehoben werden. Außerdem soll ein Fachwechsel im Studium erleichtert werden, die Förderhöchstdauer verlängert und die Bedarfssätze hinsichtlich steigender Wohnkosten angehoben werden.
Was ist BAföG?
BAföG steht für das Bundesausbildungsförderungsgesetz, das die staatliche Unterstützung von Schüler:innen, Studierenden und Auszubildenden während ihrer Ausbildung regelt. Diese staatliche Sozialleistung soll es möglichst allen ermöglichen, eine Ausbildung unabhängig von sozialem oder wirtschaftlichem Hintergrund absolvieren zu können. Mehr Informationen dazu finden sich hier.
Kinder
Nicht nur für Jugendliche und junge Erwachsene sind Änderungen vorgesehen, sondern auch die Jüngsten der Gesellschaft werden im Koalitionsvertrag erwähnt: Die Regierung plant durch eine weitere Änderung des Grundgesetzes, explizit die Kinderrechte mit in dieses aufzunehmen. Außerdem soll es einen Nationalen Aktionsplan für die Kinder- und Jugendbeteiligung geben – Kinder- und Jugendparlamente sollen dadurch zum Beispiel gestärkt werden.
Warum stehen Kinderrechte bisher noch nicht im Grundgesetz?
Seit einigen Jahren wird bereits darüber debattiert, ob und wie Kinderrechte explizit in das Grundgesetz mit aufgenommen werden sollen. Kritiker:innen dieses Vorhabens verweisen darauf, dass sich eine Grundgesetzänderung dieser Art auf das Verhältnis zwischen Familie, Eltern und Staat auswirken würde. Zudem seien die Kinderrechte schon im ersten Artikel des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“) mitgemeint. Die Regierung aus CDU/CSU und SPD hatte im Januar dieses Jahres einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt – Streit gab es dabei jedoch über die genaue Wortwahl des Gesetzestextes: Es macht daher im Gesetz einen Unterschied, ob das Wohl des Kindes „angemessen“, „vorrangig“, „wesentlich" oder „maßgeblich" berücksichtigt werden soll. Die Abgeordneten konnten hinsichtlich dieser Streitfrage keinen Kompromiss finden.
Zudem ist die sogenannte Kindergrundsicherung geplant, weil etwa jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut lebt. Da die bisherigen finanziellen Hilfen bei den bedürftigen Kindern bisher oft nicht angekommen sind und sich viele Eltern mit der Beantragung der Hilfen überfordert fühlen, soll die Kindergrundsicherung künftig solche Hilfen bündeln. Sie soll zum einen aus einem vom Einkommen der Eltern unabhängigen Betrag, der für alle Kinder gleich hoch ist, und zum anderen aus einem einkommensabhängigen Zusatzbetrag bestehen. Dafür ist eine „automatisierte“ Auszahlung ohne komplizierte Antragsverfahren vorgesehen.
Weg für mehr Vielfalt und Toleranz
Die Ampelregierung möchte darüber hinaus den Weg für ein vielfältiges und toleranteres Miteinander ebnen. Dazu soll es beispielsweise eine Aufklärungskampagne zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen und eine Grundgesetzerweiterung um das Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Identität geben. Zudem ist die Streichung des Begriffs „Rasse“ aus dem Grundgesetz vorgesehen. Die Verfasser:innen des Grundgesetzes im Jahr 1949 wollten mit dieser Formulierung ein Zeichen gegen den Rassenwahn der NS-Zeit setzen – diese Art der Formulierung wird jedoch heute als überholt kritisiert, da sie den Eindruck erwecke, dass es menschliche Rassen gebe.
Außerdem soll es Krankenkassen ermöglicht werden, Verhütungsmittel als Satzungsleistung zu erstatten – Satzungsleistungen sind Leistungen, die Krankenkassen zusätzlich zu den festgeschriebenen Leistungen im freien Ermessen gewähren können. Bei Geringverdienenden sollen die Kosten für Verhütungsmittel sogar komplett übernommen werden. Zudem möchte die Regierung den umstrittenen Strafgesetzbuchartikel zur Werbung für Schwangerschaftsabbrüche (§ 219a) streichen.
Die Diskussion um § 219a
Der Paragraph im Strafgesetzbuch regelt nicht Schwangerschaftsabbrüche an sich, die in Deutschland zwar illegal, aber unter besonderen Umständen straffrei sind, sondern die Informierung darüber. Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsanbrüche anbieten und darüber beispielsweise auf ihrer Homepage informieren, begehen demnach eine Straftat, „die Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“. Bekannt wurde in diesem Zusammenhang der Fall der Gießener Ärztin Kristina Hänel, die zu einer Geldstrafe verurteilt wurde und Revision dagegen einlegte, die vom Oberlandesgericht Frankfurt jedoch verworfen wurde. Hänel kämpfte seit Jahren für die Abschaffung des Paragraphen und begrüßt das Vorhaben der künftigen Regierung daher umso mehr.
Auf der Agenda der Ampel-Regierung steht außerdem die Abschaffung des bisherigen Transsexuellengesetzes (TSG), das durch ein Selbstbestimmungsrecht ersetzt werden soll – im TSG ist der Ablauf einer Namen- und Personenstandsänderung geregelt. Diese Änderungen sind bisher mit einem hohen Verwaltungsaufwand verbunden, dauern lang und verursachen hohe Kosten. Darüber hinaus soll das Blutspendeverbot für Männer, die mit Männern Sex haben, und für trans* Personen abgeschafft werden - "nötigenfalls auch gesetzlich".
Auf den Koalitionsvertrag der Ampelregierung wird aus unterschiedlichen Kreisen sowohl mit Lob als auch mit Kritik reagiert. Welche Forderungen in der kommenden Legislaturperiode umgesetzt werden können, bleibt natürlich weiterhin erstmal offen. Klar ist jedoch, dass die neue Regierung nicht nur vor großen Herausforderungen steht, sondern mit der andauernden Corona-Pandemie bereits zu Beginn ihrer Regierungszeit direkt eine große Herausforderung bewältigen muss.
Sophie
Den ganzen Koalitionsvertrag könnt ihr hier nachlesen.