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"Wenn ich Kanzler:in wäre..." ...würde ich vieles anders machen

Reichensteuer, Klimaschutz, Jugendpolitik – zwei junge Menschen, eine Frage: Wie würde Deutschland aussehen, wenn ich Kanzler:in wäre?


Die Kamera aufnahmebereit, das Mikrofon angeschlossen, die Kekse in Reichweite: Gespannt warteten Adrian (Q1) und Lina* (Q3) auf die ersten Fragen der Redaktion. Die beiden hatten einem Interview unter dem Motto „Wenn ich Kanzler:in wäre…“ zugestimmt, ohne zu wissen, welche Fragen sie nun erwarten würden. Auch wenn letzten Endes doch keine Videoaufnahmen gemacht wurden, entstand trotzdem ein interessantes Gespräch über den aktuellen Wahlkampf, die Versäumnisse der Politik und wünschenswerte Zukunftsansätze. Obwohl die beiden politisch gar nicht so weit auseinander lagen, gab es dennoch so einige Punkte, über die sie diskutierten und nicht immer einer Meinung waren.



Jugend und Politik – ein Widerspruch? Keineswegs!


Es ist wichtig, wählen zu gehen, um ein Erstarken der AfD zu verhindern. Außerdem beteiligt man sich so am demokratischen Prozess.

Adrian auf die Frage, ob er wählen gehen würde, wenn er wahlberechtigt wäre


Dass sich die beiden sehr für Politik interessieren, wurde während des Interviews mehr als nur deutlich: Sie antworteten beide reflektiert und glänzten mit Allgemeinwissen über verschiedene politische Themenkomplexe und Debatten. Es ist jedoch nicht selbstverständlich, dass sich Jugendliche für Politik interessieren: In der Shell-Jugendstudie von 2019 gaben etwa 41 Prozent der 12- bis 25-Jährigen an, sich für Politik zu interessieren. Auch Adrian und Lina haben diesbezüglich konkrete Vorschläge, um mehr Jugendliche für Politik zu begeistern: Eine Senkung des Wahlalters sei wichtig, um einen Ausgleich zu den älteren Bürgerinnen und Bürgern zu schaffen, die einen großen Anteil an der Bevölkerung in Deutschland ausmachen. Jugendliche müssten mehr über die Jugendorganisationen der Parteien in politische Prozesse einbezogen werden, erklärte Adrian. Lina bemängelte jedoch, dass selbst in den Jugendorganisationen nicht immer die Menschen vertreten seien, die sie sich dort wünschen würde. Sie kritisierte, dass in der Politik vor allem „alte Männer“ viel „Schwachsinn“ reden würden – da stimmte Adrian ihr zu und schlug vor, ein Ministerium zu gründen, dass sich einzig mit der Beteiligung von Jugendlichen beschäftigen solle.


Wo fangen wir da an…?

Kritisieren können die beiden vieles an der Politik: Nicht nur, dass Jugendliche zu wenig eingebunden werden, ist für sie ein großer Kritikpunkt, sondern auch der zu umsichtige Umgang mit extrem nationalistischen Strömungen oder Lobbyismus, betonte Adrian. Lina fügte noch hinzu, dass das Thema Klimaschutz viel zu oft nach hinten geschoben worden sei und ärgerte sich, dass im Umgang mit dem Klimawandel, aber auch während der Pandemie in der Politik zu wenig auf den Rat von Wissenschaftler:innen geachtet wurde.



„Ich bewundere sie sehr, wie sie sich als Frau so durchsetzen konnte.“


Angela Merkel, die seit November 2005 das Amt der Kanzlerin innehat, ist für beide die einzige Politikerin an der Spitze Deutschlands, deren Amtszeit sie bewusst wahrgenommen haben. Lina schätzt an Merkel das Management in der Krisenzeit der Pandemie: Auch wenn die Kanzlerin nicht allein handeln könne und sie auf die Entscheidungen der Ministerpräsident:innen angewiesen sei, habe sie auch für diese Entscheidungen die Verantwortung getragen. Außerdem bewundert sie ihre besonne Art im internationalen Auftreten.


Ich finde, dass ihre Entscheidung im Jahre 2015 in der Flüchtlingssituation richtig war.

Lina


Dem stimmte Adrian zu. Er verwies aber auch auf Merkels Abstimmung mit Nein zur Ehe für alle. Einige Ansichten Merkels finde er zu konservativ.

Was die beiden Angela Merkel auf einem Gipfeltreffen sagen oder fragen würden? „Warum ausgerechnet die CDU?“, meinte Adrian lachend. „Ich würde ihr sagen, wie sehr ich sie dafür bewundere, dass sie sich als Frau so durchsetzen konnte. Aber ich würde sie fragen, weshalb sie den Klimaschutz nicht weiter vorangetrieben hat“, erklärte Lina.



„All das, was Laschet nicht hat“


Merkel kandidiert nach 16 Jahren nicht für eine weitere Legislaturperiode – es endet eine Ära. Doch was muss ein Kanzler oder eine Kanzlerin überhaupt für das Amt mitbringen? „Durchsetzungsvermögen, die Fähigkeit, seine Meinung zu vertreten, ein Gespür für wichtige Themen und man muss hinter dem Volk stehen“, stellte Adrian klar. Lina schlosst sich dem an: „Und noch Charisma und Besonnenheit in schwierigen Situationen. Also all das, was Laschet nicht hat“, fügte sie schmunzelnd hinzu.

Auf die Frage, wen sie von den aktuellen Kanzlerkandidierenden bevorzugen würden, fand Adrian vor allem klare Worte zu Armin Laschet, dem Kanzlerkandidaten der CDU. „Er wirkt nicht professionell. Er widerspricht sich selbst, wie man beispielsweise bei seiner letzten Aussage zu seiner Abstimmung bei der Ehe für alle gesehen hat.“ Auch wenn Lina selbst Laschet nicht wirklich sympathisch fände, merkte sie an, dass Laschet als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen das bevölkerungsreichste Bundesland Deutschlands führe – „das kann man nicht ohne Politikerfahrung“. Sein derzeitiges Handeln erklärte sie sich auch aus seiner Angst – Angst vorm Scheitern und Angst vor der Konkurrenz mit Markus Söder, dem Ministerpräsidenten von Bayern und dem Parteichef der CSU. Olaf Scholz (SPD) sei „ganz gut, aber in der SPD“, wie Adrian meinte, während Lina kritisierte, dass er bei konkreten Fragen oft ausweiche und keinen klaren Standpunkt habe – bestes Beispiel sei dazu die Frage, ob er eine Koalition mit der Linken im Bund befürworten oder ablehnen würde.



Eigentlich… niemand von denen


Adrian würde von den aktuellen Kandidat:innen Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN) bevorzugen. Ihre Partei sei wichtig und müsse sich gegen die SPD und die CDU/CSU durchsetzen. Auch Lina bevorzugt Baerbock – „Vor allem weil sie eine Frau ist und ich finde, dass es besser ist, wenn eine Frau regiert.“ Dennoch betonte Lina auch, dass die Grünen schon in einigen Bundesländern in der Regierung säßen und sich trotzdem nicht viel geändert hätte. Beide sind sich aber einig, dass sie niemand von den drei Kandidierenden wirklich überzeugt. Adrian wünsche sich eine Kanzlerschaft unter den Linken, da ihm Themen wie Klimaschutz und Gleichberechtigung besonders wichtig seien – auch, wenn ihm bewusst ist, dass eine Partei in einer Koalition nicht all ihre Forderungen umsetzen könne und immer noch auf Mehrheiten angewiesen sei. Eine solche Mehrheit gebe es zum Beispiel nicht für den von der Linken geforderten Austritt aus der NATO, wie Lina betonte. Zwar finde sie die innenpolitischen Forderungen der Linken grundsätzlich nicht schlecht, doch bei vielen außenpolitischen Fragen sei sie zu „100 Prozent anderer Ansicht als die Linken“. Adrian fände einen hohen Steuersatz für hohe Einkommen und Vermögen jedoch mehr als gerechtfertigt – Lina würde jedoch selbst die reichen Menschen nicht allzu sehr belasten, sondern auf die Förderung der Mittelschicht und die Entlastung der unteren Einkommensschichten setzen wollen.



„Das ist alles heuchlerisch“


Vor allem für die Wahlkampagnen der Parteien fand Lina klare Worte: Die Forderungen der CDU/CSU und der SPD nach Aufbruch seien „heuchlerisch“, wie sie anmerkte. „Die Parteien haben jetzt so viele „neue“ Wahlversprechen – warum haben sie diese denn nicht schon in den vielen Jahren ihrer Regierungszeit umgesetzt?“


Und welche Wahlversprechen würden denn dann die beiden machen, wenn sie im Kanzleramt wären?


Adrian: „Ich würde mich für ein „Maximalvermögen“ einsetzen. Außerdem wären mir echte Klimaschutzmaßnahmen, Gleichberechtigung und ein strikteres Vorgehen gegen extrem nationalistische Bewegungen wichtig.“


Lina: „Ich würde für mehr internationale Zusammenarbeit und für eine Stärkung der Europäischen Union einstehen. Außerdem wäre es mir wichtig, nicht nur gegen rechte Strömungen vorzugehen – da braucht man einen guten Mittelweg. Ich würde auch die Trennung zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung abschaffen und eine Bürgerversicherung einführen wollen. Die Schulen müssten besser ausgestattet werden und es bräuchte auch einen höheren Mindestlohn.“


Für welche Partei die beiden antreten würden? Darauf hatte Adrian eine klare Antwort: „Die Linke.“ Sie vertrete viele seiner Interessen, auch wenn ihm bewusst sei, dass es keine Partei gebe, die hundertprozentig seinen Vorstellungen entspricht. Lina verwies auf ihr Ergebnis im Wahl-O-Mat: 80 Prozent für die DiB („Demokratie in Bewegung“) – eine Partei mit 224 Mitgliedern, die sie vorher auch noch nicht kannte. Ihr wäre es besonders wichtig, mit einer Partei anzutreten, die auch ihre eigenen Interessen vertreten würde. Dass es für eine Kleinstpartei äußerst unwahrscheinlich ist, irgendwann einen Kanzlerkandidaten zu stellen, ist Lina bewusst – sie würde sich deshalb vermutlich doch eher für die SPD oder die Grünen entscheiden.



„Eigentlich könnte man fast alles ändern.“


Welches Gesetz würde die beiden als Kanzler oder Kanzlerin direkt auf den Weg bringen wollen?


Adrian: „Das „Maximalvermögen“ und die Erforschung neuer Energiequellen hätten bei mir oberste Priorität.“


Lina: „Das Thema Klimaschutz würde bei mir an erster Stelle stehen: Die Stromversorgung muss gesichert werden – auch in internationaler Zusammenarbeit. Wir brauchen mehr Forschungsgelder für alternative Antriebstechniken wie Wasserstoff in der Automobilbranche, da E-Autos allein nicht die Zukunft sind. Zudem sollte mehr in die Forschung für den Umgang mit Atommüll investiert werden, denn an sich ist die Stromerzeugung durch Atomkraftwerke klimaneutral.“


Und was würden die beiden aus vorherigen Legislaturperioden vielleicht rückgängig machen oder verändern wollen?


Adrian: „Ich hätte die Ehe für homosexuelle Paare schneller erlaubt. Und den Solidaritätszuschlag hätte ich auch schneller abgeschafft und vielleicht nur noch für Reiche beibehalten.“


Wer etwas gegen ein solches Lobbyregister ist, hat ja scheinbar wirklich etwas zu verstecken.

Lina


Lina: „Wir brauchen ein zuverlässiges Lobbyregister, damit Politik wieder transparenter wird. Außerdem hat man während der Pandemie gemerkt, wie wenig in die Schulen investiert wurde und die Universitäten wurden ja nahezu vollkommen vergessen. Es war für mich auch nicht nachvollziehbar, wie riesige Fußballevents stattfinden konnten, während alles andere geschlossen war. Zudem müsste der Kohleausstieg vorgezogen werden, die Fleischindustrie bräuchte härtere Auflagen, die Automobilbranche müsste verändert werden. Eigentlich könnte man fast alles ändern.“


Auch Adrian fügte hinzu, dass er sich einen früheren Kohleausstieg wünsche, eine CO2-Steuer einführen und die Digitalisierung weiter vorantreiben würde. Doch auch die CO2-Steuer war wieder ein Streitpunkt zwischen den beiden: „Es leiden doch die Ärmeren darunter“, kritisierte Lina. Adrian entgegnete, dass eine CO2-Steuer fair sein müsse – vielleicht auch nur für Menschen ab einem bestimmten Einkommen.



Nach über einer Stunde beendeten wir das Interview – nicht, weil uns die Themen ausgingen, sondern da uns die Zeit Probleme bereitete. Lina und Adrian hätten vermutlich noch den gesamten Nachmittag miteinander diskutieren können. Ob solch ein Politikwechsel, wie ihn sich die beiden wünschen, erfolgen wird, werden die nächsten vier Jahre der kommenden Legislaturperiode zeigen.

 

Das Interview führten Hannah und Sophie.


* Lina heißt eigentlich anders, möchte aber für die Veröffentlichung des Interviews anonym bleiben.

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